»Die Arbeiterklasse gibt es noch«
Gianni Frizzo, Streikführer in den Officine von Bellinzona: »In diesen Tagen sind die menschlichen Beziehungen zentral«
Einen Termin für ein Interview mit ihm festzusetzen ist ein schwieriges Unterfangen. Alle verlangen nach ihm, alle spornen ihn an, alle wollen ihn. Er findet die Zeit und die Energie um mit allen zu sprechen, um eine Schulklasse auf Besuch in der Officina zu empfangen sowie wichtige organisatorische Details zu besprechen, um die soundsovielte Unterstützungsspende für den Streik zu empfangen sowie um auf die Solidaritätsmitteilungen zu antworten. Ohne es zu beabsichtigen ist Gianni Frizzo eine sehr populäre Person geworden, die Medien streiten sich um ihn. Nach Jahren unermüdlicher Gewerkschaftsarbeit als Präsident der Personalkommission und des Komitees »Giù le mani dalle Officine« ist er von allen als Streikführer im Industriewerk von Bellinzona anerkannt. 52 Jahre alt, angestellt im Elektromotorensektor nach der Schließung der Sattlerei, hat Frizzo ein Charisma und eine natürliche Sympathie, die ihn für jeden zum angenehmen Gesprächspartner machen. Er nimmt sich in Schutz, sagt, dass er nichts Extraordinäres mache. Am Vorabend der großen Demonstration vom Mittwoch in Bern haben wir ihn gefragt, wie er die ersten zwei Streikwochen erlebt hat.
Gianni Frizzo, wie geht es ihnen nach zwei Wochen Streik?
Sehr gut, ich bin abgeklärt und ruhig. Es gibt einige Ermüdungserscheinungen, aber es gibt kein Zweifeln und kein Bedauern, ich würde alles wieder auf die genau gleiche Weise tun.
Letzten Sommer sagten sie in einem Interview mit Area kampfesmüde zu sein und dass sie in die Gewerkschaften kaum noch Vertrauen hätten.
Es war lediglich einer dieser Momente der Kraftlosigkeit, von denen man sich schnell wieder erholt. Es genügt ein Funke und die Lust gegen die Übergriffe und die Ungerechtigkeit zu kämpfen kommt zurück. Der Funke war der letzte Schlag der SBB-Führung, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat: unter dem Vorwand, Cargo in die schwarzen Zahlen zu bringen, mussten wir in den letzten Jahren schon eine starke Reduzierung der Anzahl der Beschäftigten, eine deutliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durch neue Produktionsphilosophien (Kaizen, Toyotismus, Zeitnehmer die den ganzen Tag über die Schultern schauen) und die massenhafte Ankunft von TemporärarbeiterInnen hinnehmen. Jetzt reicht es.
Die Verteidigung der Rechte von prekären ArbeiterInnen ist eine zentrale Komponente ihres Kampfes.
Ja, ihre Situation ist besonders schmerzhaft: es sind KollegInnen bei denen man jeden Tag die Besorgnis im Gesicht ablesen kann. Und was die Sache noch schlimmer macht: von Seiten der Gewerkschaften gab es keine entschiedenen Interventionen, ihr Problem zu lösen. So kam es zu einer natürlichen Spaltung des Personals in der Officina. Der Streik hat alle ArbeiterInnen zusammengeführt und solidarisiert. Wenn wir die Arbeit wieder aufnehmen, werden die Beziehungen zwischen uns verändert sein. ArbeiterInnen und Führungskräfte, die vorher kein Wort miteinander sprachen, streiken heute Seite an Seite, essen und diskutieren zusammen. Sie sind vereint durch das Bewusstsein der Wichtigkeit des Respekts vor dem Menschen und seiner Würde.
Wann ist euch bewusst geworden, dass euer Kampf sich in etwas anderes verwandelt, etwas Größeres, das nicht »nur« die Verteidigung eurer Arbeitsplätze betrifft?
Schon bei der Versammlung in der Casa del Popolo (dt. Volkshaus) am 28. Februar: ich hatte nur einen Saal reserviert, weil ich wenige Teilnehmer erwartete, aber ich musste die Trennwand zwischen den Sälen öffnen damit alle teilnehmen konnten, die wollten. Da wurde mir bewusst, dass etwas Heftiges geschehen würde. Die Bestätigung war die breite Teilnahme an der Demonstration vom 8. März.
In der Zwischenzeit ereigneten sich auch andere bezeichnende Episoden: die Staatsräte Patrizia Pesenti und Marco Borradori haben zum Beispiel am 3. März den Palazzo delle Orsoline (Tessiner Regierungssitz) verlassen und sich der Demonstration angeschlossen …
Es ist wahr, das war ein sehr bedeutender Moment. Ich hatte den Eindruck, dass die Kantonsmacht darauf wartete, dass jemand den Protest auslösen würde um mit seiner Autorität Einfluss zu nehmen. Es war als hätte der ganze Tessin intuitiv die Müdigkeit und das Unbehagen der Leute an der Front nach immer maßloserer Suche nach Profit erkannt. Allein niemand begann mit dem Protest. Bis die ArbeiterInnen der Officina ankamen.
Inzwischen bemerken die TessinerInnen, dass es immer noch ArbeiterInnen gibt. Das Symbolbild eures Kampfes sind die aufgehängten Arbeitskleider. In einem Kanton, in dem man dazu tendiert zu glauben, dass alle im dritten Sektor (Dienstleistungssektor) arbeiten, habt ihr den Arbeiter und seine Intelligenz wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
Das ist sehr wichtig. Ich glaubte nie an das Ende der Arbeiterklasse, sie hat sich verändert, aber sie ist noch da, und wie! Die Mentalität des Arbeiters hat sich verändert, weil man ihm lange glauben machte, dass sich die Hände schmutzig machen nicht schön ist und dass auch er sich bereichern könnte, indem er mit etwas Geld in der Börse spielte. Zudem musste ich in den letzten Jahren leider auch das Aufkommen eines gewissen Egoismus in der Officina feststellen.
In welchem Sinn?
Seit Jahren spricht das Komitee »Giù le mani dalle Officine« von der Notwendigkeit, die Solidarität auszuweiten. Wir sind in einer Situation der Stärke und haben die Pflicht, die Schwachen zu verteidigen, denn nur in einer Position der Stärke ist man in der Lage die Realität zu beeinflussen. Das ist eine Botschaft, die wir nur mit Mühe zirkulieren lassen konnten, auch innerhalb der Gewerkschaft. In den diversen durchgeführten Umstrukturierungen in diesen Jahren bei der SBB, mussten sich die diversen Kategorien der Beschäftigten mal um mal mit den ergriffenen Maßnahmen arrangieren, sei es das Zugpersonal oder das Personal der Industriewerke in Chur. Auch als wir von Bellinzona unsere Kräfte mit dem Industriewerk in Biel vereinen wollten um eine Kampfstrategie auf nationaler Ebene einzuleiten, wurden wir von der Führungsspitze der Gewerkschaft gebremst: jeder müsse sich mit der eigenen Situation beschäftigen. Jetzt ist es eine ganz andere Dynamik. Auch weil es jetzt nicht die Gewerkschaftsspitze ist, die der Basis sagt, was sie zu tun hat, dieser Kampf ist von der Basis gestartet worden und die Gewerkschaften konnten nichts anderes tun als ihm zu folgen. Eine Bedingung, die wir den Führungsspitzen der Gewerkschaften gestellt haben war, dass sie nicht autorisiert sind, einen Sozialplan auszuhandeln solange dieser Streik am Laufen ist. Nun funktioniert die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und liefert gute Resultate.
Bleibt das Problem der Erweiterung der Kampffront und der Ausweitung des Kampfes auf die anderen von der Umstrukturierungen bei SBB Cargo betroffenen Orte.
Das ist heute wirklich unsere größte Schwierigkeit. Wir wollen den Kampf ausweiten und wir arbeiten daran, indem wir die Gewerkschaften nicht nur auffordern, unseren Kampf zu unterstützen, sondern auch ihn zu erweitern indem man sich weigert in die Logik des Gesamtarbeitsvertrages (GAV) zurückzukehren. Die Direktion der SBB hat begriffen, dass es in Bellinzona ein Streikkomitee gibt, das sich die Regeln nicht diktieren lässt, aber an den anderen Orten hat sie die Diskussion auf die Sozialpartner beschränkt. Das ist sicher kein guter Dienst für unsere KollegInnen in Schwierigkeit. Wir sind überzeugt, dass dieser Kampf zusammen gekämpft werden muss und sich die Front noch ausweiten lässt.
Inzwischen ist aber die ganze SBB mit euch: jeder Zug der durch Bellinzona fährt pfeift um euch zu unterstützen, ein symbolischer Akt der nicht ignoriert werden kann.
Ich glaube nicht, dass es sich um etwas Improvisiertes handelt: es ist etwas tiefschürfendes, dieses Mal spüre ich eine andere Energie als in den letzten Jahren. Es taucht für einmal ein wenig auf, was es Gutes hat in der menschlichen Seele. Ich lade alle ein, die soziale Phänomene studieren, sich diese Chance nicht entgehen zu lassen, die Officine und alles was darum passiert sind ein außergewöhnliches Laboratorium.
Streiken ist nicht einfach. Man kann Angst bekommen, vor allem dann, wenn die Direktion der SBB dir mit einem persönlichen Brief die Entlassung androht, du kaum dein Haus gebaut und kleine Kinder hast. Abgesehen vom Antrieb vom Rednerpult aus, wie ermutigt man jene, die zweifeln?
Die menschlichen Beziehungen sind fundamental, es ist nötig jene versuchen zu unterstützen, die in einem Tief sind. Es ist eine Aufgabe, die viel Zeit in Anspruch nimmt im Moment, die aber nötig ist. Zudem werden die Leute mit Schwierigkeiten nicht nur während der Streiktage unterstützt, sondern auch im alltäglichen Leben. Es liegt in meiner Art und in der vieler meiner KollegInnen die Sorgen derjenigen anzuhören, die Angst haben und ihnen zu versichern, dass das was sie machen richtig ist und Respekt verdient. Andererseits, wenn ich vor einem Monat von Streik in der Officine gesprochen hätte, wäre es für alle unvorstellbar gewesen. Hingegen sind wir schlussendlich in ganz natürlicher Weise zum Streik gekommen, weil die KollegInnen gemerkt haben, dass der Streik nichts anderes ist, als eine legitime Aktion um die eigenen Rechte und die eigene Würde zu verteidigen. Der Direktor der SBB, Andreas Meyer, hat es noch nicht begriffen, ich musste es ihm am Samstag in Biasca erneut erklären: es ist nur noch er, der unsere Streik für illegal erklärt, im Tessin unterstützen und finanzieren alle vom Kanton bis zur Kirche unseren Kampf, weil sie wissen dass er legal und legitim ist.
Fühlen sie sich nicht unwohl als öffentliche Person?
Ich frage mich häufig, was ich außergewöhnliches gemacht habe. Ich habe immer das gesagt und getan was ich auch heute sage und tue. Die Neuigkeit ist, dass die KollegInnen verstanden haben, dass sie es im Grunde auch wie ich machen können. Es gibt Kollegen, die viel fähiger sind als ich und die schlussendlich den Mut gefunden haben das Wort zu ergreifen und zu zeigen was in ihnen steckt. Wenn meine Person dazu dienen kann, solchen Leuten Kraft zu geben, bin ich darüber glücklich. So gesehen ist es auch in Ordnung, wenn ich die Figur des Leaders habe …
Fühlen sie sich als Leader?
Nein. Aber ich erlebe Situationen, die mich nachdenken lassen. Es verwundert mich nicht, dass es in der Geschichte Diktatoren mit großer Unterstützung aus dem Volk gab, weil man in bestimmten Situationen, wenn viel Vertrauen vorhanden ist, fast jede Idee durchbringen kann. Das verlangt einen starken Sinn für Verantwortung.
Haben sie sogar Angst vor ihrem Einfluss in der Versammlung, wenn zum Beispiel ein Vorschlag von ihnen per Akklamation angenommen wird?
In diesem Moment bin ich überzeugt, dass ich das richtige mache. Zudem ist das was ich sage die Frucht von vielen Gesprächen, die ich jeden Tag mit den KollegInnen führe: was ich am Morgen in der Versammlung sage korrespondiert zum größten Teil mit dem, was sie mir am vorigen Tag gesagt haben. Zugleich aber, wenn ich die KollegInnen in der Versammlung zur Diskussion auffordere, will ich tatsächlich eine Debatte. In früheren Jahren gab es Leute, die mir widersprachen, heute gibt es keinen mehr der mir Unrecht gibt. Das ist nicht mein besonderer Einfluss. Die KollegInnen spüren ganz einfach was ich spüre und lassen sich anspornen, in eine Richtung zu gehen, die auch sie für richtig befinden. Die Versammlung hat dem Streikkomitee das volle Vertrauen ausgesprochen. Ich hoffe die KollegInnen sehen auch, wenn wir Fehler machen.
Der Streik ist wahrscheinlich noch eine viel schwierigere Prüfung für eure Ehefrauen und Lebensgefährten.
Das ist wahr, ich sehe es auch bei meiner Frau. Sie haben mehr Angst als wir, sie wissen, dass wir in der Realität nicht so sicher sind mit dem was wir sagen, auch wenn es so scheint. Sie wissen, dass wir ein großes Spiel spielen, dass wir heute stark sind, aber dass es auch wenig braucht damit alles in sich zusammenfällt.
Gewinnt ihr?
Davon bin ich überzeugt. Wenn wir nicht gewinnen ist das ein brutales Zeichen für all jene, die in Zukunft ihren Arbeitsplatz verteidigen wollen. Denn wenn selbst wir mit all der Unterstützung nicht gewinnen, wird sonst auch niemand siegreich sein. Gewinnen wir aber ist es ein Signal der Hoffnung: wir demonstrieren dann, dass eine Aktion, die mit Würde, Ruhe und der Unterstützung der Bevölkerung durchgeführt wird, siegreich sein kann.
Übersetzung: Basisgruppe Bahn